Immer mehr Leserreporter
Täglich erinnern Blogs und Foto-Communities die klassischen Medien daran, dass sie kein so richtiges Monopol mehr auf Nachrichtenvermittlung haben. Kein Wunder, dass manche Verlage die schmerzhafte Erkenntnis in eine neue Strategie umzumünzen versuchen. Blogger meinen, dass auch die Redakteure umdenken müssten: Der Deutsche Journalistenverband verschließe mit seinem Protest gegen "Leser-Reporter" die Augen davor, "dass sich der Berufsstand Journalismus gerade in einem fundamentalen Umbruch befindet", kritisierte Roland Grün. "Die ,Berichterstattung aus dem Wohnzimmer' ist unweigerlich auf dem Vormarsch, ob nun mit oder ohne Zeitungen." Auch künftig seien Journalisten mit ihren Fähigkeiten gefragt - jedoch in einer Vermittler- oder Moderatorenrolle.
Privatsphäre war gestern, sagen die Kritiker, vor allem Anwälte von Prominenten und Journalisten. Sie haben recht. Doch sie heucheln.
Denn es macht sich inzwischen jeder das ganze Bild, überall und immerfort, vor allem im Internet, ob bei MySpace oder YouTube. Mit dem Handy ruft man nicht zuerst den Notarzt, die Feuerwehr oder die Polizei, sondern macht ein Foto und stellt es ins Netz. Schießen professionelle Fotografen ein Bild mit Prominenten und Masse, ist garantiert einer in Sicht, der gerade sein Handy hochhält, um zu knipsen. Seht her, ich bin dabei, ich bin mittendrin, ich bin ganz nah dran. Wer fotografiert, begeht nicht Selbstmord, hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu einmal gesagt. Wer fotografiert, der hält sein Leben und den Augenblick fest, der verweilen soll. Und doch stellen uns die „Leserreporter“ nach - und entlarven uns zugleich als die Voyeure, die wir sind.
Sie sind da, bevor die Fotografen der Nachrichtenagenturen auftauchen. Sie zeigen Autos, die brennen, und nicht erst die Löscharbeiten der Feuerwehr. Das macht sie für den Journalismus so interessant, ja unentbehrlich. „Mit den Leserreportern überwinden wir Zeit und Raum“, sagt der „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann. Und weil das so ist, hat sein Blatt inzwischen etwa 1100 Bilder von Leserreportern gedruckt. Mehr als 249.000 Euro an Honoraren sind geflossen. Für jeden Schnappschuß gibt es zwischen hundert und fünfhundert Euro. Drei Klagen von Prominenten sind eingegangen, alle vom selben Anwalt. Ganze Seiten füllen die Leser-Bilder inzwischen, sie machen Nachrichten. Zwanzigtausend Bilder von Lesern hat die Redaktion gebunkert, täglich werden es tausend mehr; im Sommer waren es bis zu 2500. Nur die wenigsten zeigen Prominente in peinlichen Posen.
Doch nicht nur der Boulevard hat die Bedeutung der Leser als Fotografen entdeckt - von der „Bild“ in Hamburg bis zur „tz“ in München. Angefangen hat die „Saarbrücker Zeitung“ damit. Sie ist dem Vorbild des norwegischen Boulevardblatts „VG“ gefolgt, das mit Fotos vom Tsunami Aufsehen erregte. Der „Stern“ hat den Lesern mit „Augenzeugen.de“ ein Portal eingerichtet und festgestellt: „Gute Pressefotos werden immer öfter von Amateuren gemacht. Mit Kleinkameras oder Knips-Handys sind sie oft schneller als Profi-Fotografen.“ Nachrichtenwert sollten die Bilder haben, schreibt der „Stern“ zu seinem Portal und sagt: „keine Chance für Möchtegern-Paparazzi“. Doch was hat Nachrichtenwert? „Gesucht wird alles, was Chancen hat, veröffentlicht zu werden: Bilder von Naturereignissen etwa, von Prominenten, von Sportereignissen, Naturkatastrophen und Unfällen.“
Und so sieht das dann aus: tödlicher Verkehrsunfall auf der A7 zwischen Nörten-Hardenberg und Northeim-West (4. November, 4.55 Uhr), ein verkohlter Schuh neben einem Auto. In Göttingen muß sich ein junger Mann, dessen Gesicht nur halbherzig unkenntlich gemacht worden ist, einer Alkoholkontrolle stellen (4. September, 13 Uhr). Ein verwundeter Kfor-Soldat wird nach einem Minenunfall im Flugzeug nach Deutschland transportiert (keine Orts- und Zeitangabe). Angela Merkel und Wladimir Putin mit grimmiger Miene in Dresden beim Petersburger Dialog. Kardinal Lehmann gähnt in Mainz.
Bei augenzeuge.de können Leserreporter mit ihren Bildern noch mehr Geld verdienen als bei „Bild“. Die Profis stellen sie regelrecht ein. Die Aufnahmen werden von der Agentur Picture Press, die wie der „Stern“ zu Gruner + Jahr gehört, vermarktet. Ein Bild, das in die Zeitung kommt, bringt, je nach Auflage, 45 bis hundert Euro, landet es auf dem Titel einer Illustrierten mit Millionenauflage, steht ein Honorar von 820 Euro ins Haus.
Die Bilder von Lesern lohnen sich also, für beide Seiten, sie werden professionell eingebunden, was die journalistische Erregung über die Amateure als Heuchelei ausweist. Was die Leitartikler verdammen, kaufen die Fotochefs ein. Sogar beim Fernsehen werden die Bilder eingeworben. Während des Papst-Besuchs forderte das ZDF sein Publikum im Internet auf, dazu die schönsten Bilder einzusenden - ein solches wie von dem unbekannten „Bild“-Leser war freilich nicht dabei. Und bei dem Nachrichtensender CNN geht längst nichts mehr ohne die „Citizen Reporter“. Das war zuletzt bei den Bombenanschlägen auf die U-Bahn in Bombay zu sehen, als den ganzen Tag Videoeinspielungen von Zuschauern liefen; ein Laufband forderte auf, für Nachschub zu sorgen. Bei N24 gibt es die „Augenzeugen“ schon seit einem Jahr.
Damit wirklich niemand auf den Nachschub verzichten muß, hat sich eine Tochterfirma der Deutschen Presse-Agentur, die dpa-Infocom, die 2005 die Mobilplattform „Minds“ gestartet hat, welche inzwischen rund fünfzig Regionalzeitungen nutzen, etwas einfallen lasse: man kann Schnappschüsse vom Fotohandy als Bilddatei in die Redaktion senden. Big Brother is watching you.
Zum Fürchten sind die Leserreporter dennoch. Denn die Hemmschwelle, Menschen gerade in unpassendsten Gelegenheiten festzuhalten, sinkt erheblich, wenn Zeitungen einen anstacheln und es auch noch Geld dafür gibt, andere bloßzustellen. Nicht ohne Grund gibt es inzwischen Dienstanweisungen für Rettungssanitäter und Feuerwehrleute, doch bitte ihren Job zu tun und nicht erst an ein Foto zu denken. Doch vor allem dem gemeinen Blockwart von nebenan ergeben sich ganz neue Möglichkeiten: ein Polizist ohne Helm auf dem Moped, ein anderer mit Handy im Auto, ein Hundebesitzer, der seinen Vierbeiner mit dem Hochdruckreiniger duscht. Sie alle werden ertappt und, im engeren sozialen Kreis, erkannt und lächerlich gemacht. Nachrichtenwert haben solche Bilder nicht. In der Zeitung landen sie trotzdem. Dabei könnten sich die Abgebildeten wehren, denn verletzt wird, so sie zu erkennen sind, ihr Recht am eigenen Bild. Die Leserreporter jedoch haben in der Regel wenig zu befürchten, Redaktion und Verlag müssen für ihre Fotos genauso geradestehen wie für die der Berufsfotografen.
Doch ist auch anderen Leserreportern, die mit Lack und Leder oder Latex nichts am Hut haben, nach dem Bild unter Umständen nicht mehr so wohl. Der Chefredakteur der dpa, Wilm Herlyn, der sich einmal privat als „Bild“-Leserreporter betätigte, sagt, er würde es nicht wieder machen. Aus einer „Urlaubslaune“ heraus hatte er seinen Freund, Fernsehmoderator Heiner Bremer, badehosennackig am Strand fotografiert. Das fällige Honorar spendete Herlyn für einen guten Zweck. Professionell sagt er zu Leserreportern für seine Agentur ein klares „nein“.
Privatsphäre war gestern, sagen die Kritiker, vor allem Anwälte von Prominenten und Journalisten. Sie haben recht. Doch sie heucheln.
Denn es macht sich inzwischen jeder das ganze Bild, überall und immerfort, vor allem im Internet, ob bei MySpace oder YouTube. Mit dem Handy ruft man nicht zuerst den Notarzt, die Feuerwehr oder die Polizei, sondern macht ein Foto und stellt es ins Netz. Schießen professionelle Fotografen ein Bild mit Prominenten und Masse, ist garantiert einer in Sicht, der gerade sein Handy hochhält, um zu knipsen. Seht her, ich bin dabei, ich bin mittendrin, ich bin ganz nah dran. Wer fotografiert, begeht nicht Selbstmord, hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu einmal gesagt. Wer fotografiert, der hält sein Leben und den Augenblick fest, der verweilen soll. Und doch stellen uns die „Leserreporter“ nach - und entlarven uns zugleich als die Voyeure, die wir sind.
Sie sind da, bevor die Fotografen der Nachrichtenagenturen auftauchen. Sie zeigen Autos, die brennen, und nicht erst die Löscharbeiten der Feuerwehr. Das macht sie für den Journalismus so interessant, ja unentbehrlich. „Mit den Leserreportern überwinden wir Zeit und Raum“, sagt der „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann. Und weil das so ist, hat sein Blatt inzwischen etwa 1100 Bilder von Leserreportern gedruckt. Mehr als 249.000 Euro an Honoraren sind geflossen. Für jeden Schnappschuß gibt es zwischen hundert und fünfhundert Euro. Drei Klagen von Prominenten sind eingegangen, alle vom selben Anwalt. Ganze Seiten füllen die Leser-Bilder inzwischen, sie machen Nachrichten. Zwanzigtausend Bilder von Lesern hat die Redaktion gebunkert, täglich werden es tausend mehr; im Sommer waren es bis zu 2500. Nur die wenigsten zeigen Prominente in peinlichen Posen.
Doch nicht nur der Boulevard hat die Bedeutung der Leser als Fotografen entdeckt - von der „Bild“ in Hamburg bis zur „tz“ in München. Angefangen hat die „Saarbrücker Zeitung“ damit. Sie ist dem Vorbild des norwegischen Boulevardblatts „VG“ gefolgt, das mit Fotos vom Tsunami Aufsehen erregte. Der „Stern“ hat den Lesern mit „Augenzeugen.de“ ein Portal eingerichtet und festgestellt: „Gute Pressefotos werden immer öfter von Amateuren gemacht. Mit Kleinkameras oder Knips-Handys sind sie oft schneller als Profi-Fotografen.“ Nachrichtenwert sollten die Bilder haben, schreibt der „Stern“ zu seinem Portal und sagt: „keine Chance für Möchtegern-Paparazzi“. Doch was hat Nachrichtenwert? „Gesucht wird alles, was Chancen hat, veröffentlicht zu werden: Bilder von Naturereignissen etwa, von Prominenten, von Sportereignissen, Naturkatastrophen und Unfällen.“
Und so sieht das dann aus: tödlicher Verkehrsunfall auf der A7 zwischen Nörten-Hardenberg und Northeim-West (4. November, 4.55 Uhr), ein verkohlter Schuh neben einem Auto. In Göttingen muß sich ein junger Mann, dessen Gesicht nur halbherzig unkenntlich gemacht worden ist, einer Alkoholkontrolle stellen (4. September, 13 Uhr). Ein verwundeter Kfor-Soldat wird nach einem Minenunfall im Flugzeug nach Deutschland transportiert (keine Orts- und Zeitangabe). Angela Merkel und Wladimir Putin mit grimmiger Miene in Dresden beim Petersburger Dialog. Kardinal Lehmann gähnt in Mainz.
Bei augenzeuge.de können Leserreporter mit ihren Bildern noch mehr Geld verdienen als bei „Bild“. Die Profis stellen sie regelrecht ein. Die Aufnahmen werden von der Agentur Picture Press, die wie der „Stern“ zu Gruner + Jahr gehört, vermarktet. Ein Bild, das in die Zeitung kommt, bringt, je nach Auflage, 45 bis hundert Euro, landet es auf dem Titel einer Illustrierten mit Millionenauflage, steht ein Honorar von 820 Euro ins Haus.
Die Bilder von Lesern lohnen sich also, für beide Seiten, sie werden professionell eingebunden, was die journalistische Erregung über die Amateure als Heuchelei ausweist. Was die Leitartikler verdammen, kaufen die Fotochefs ein. Sogar beim Fernsehen werden die Bilder eingeworben. Während des Papst-Besuchs forderte das ZDF sein Publikum im Internet auf, dazu die schönsten Bilder einzusenden - ein solches wie von dem unbekannten „Bild“-Leser war freilich nicht dabei. Und bei dem Nachrichtensender CNN geht längst nichts mehr ohne die „Citizen Reporter“. Das war zuletzt bei den Bombenanschlägen auf die U-Bahn in Bombay zu sehen, als den ganzen Tag Videoeinspielungen von Zuschauern liefen; ein Laufband forderte auf, für Nachschub zu sorgen. Bei N24 gibt es die „Augenzeugen“ schon seit einem Jahr.
Damit wirklich niemand auf den Nachschub verzichten muß, hat sich eine Tochterfirma der Deutschen Presse-Agentur, die dpa-Infocom, die 2005 die Mobilplattform „Minds“ gestartet hat, welche inzwischen rund fünfzig Regionalzeitungen nutzen, etwas einfallen lasse: man kann Schnappschüsse vom Fotohandy als Bilddatei in die Redaktion senden. Big Brother is watching you.
Zum Fürchten sind die Leserreporter dennoch. Denn die Hemmschwelle, Menschen gerade in unpassendsten Gelegenheiten festzuhalten, sinkt erheblich, wenn Zeitungen einen anstacheln und es auch noch Geld dafür gibt, andere bloßzustellen. Nicht ohne Grund gibt es inzwischen Dienstanweisungen für Rettungssanitäter und Feuerwehrleute, doch bitte ihren Job zu tun und nicht erst an ein Foto zu denken. Doch vor allem dem gemeinen Blockwart von nebenan ergeben sich ganz neue Möglichkeiten: ein Polizist ohne Helm auf dem Moped, ein anderer mit Handy im Auto, ein Hundebesitzer, der seinen Vierbeiner mit dem Hochdruckreiniger duscht. Sie alle werden ertappt und, im engeren sozialen Kreis, erkannt und lächerlich gemacht. Nachrichtenwert haben solche Bilder nicht. In der Zeitung landen sie trotzdem. Dabei könnten sich die Abgebildeten wehren, denn verletzt wird, so sie zu erkennen sind, ihr Recht am eigenen Bild. Die Leserreporter jedoch haben in der Regel wenig zu befürchten, Redaktion und Verlag müssen für ihre Fotos genauso geradestehen wie für die der Berufsfotografen.
Doch ist auch anderen Leserreportern, die mit Lack und Leder oder Latex nichts am Hut haben, nach dem Bild unter Umständen nicht mehr so wohl. Der Chefredakteur der dpa, Wilm Herlyn, der sich einmal privat als „Bild“-Leserreporter betätigte, sagt, er würde es nicht wieder machen. Aus einer „Urlaubslaune“ heraus hatte er seinen Freund, Fernsehmoderator Heiner Bremer, badehosennackig am Strand fotografiert. Das fällige Honorar spendete Herlyn für einen guten Zweck. Professionell sagt er zu Leserreportern für seine Agentur ein klares „nein“.
bluhmberg - 26. Nov, 16:09
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